Die Verhaltensregeln sind sehr genau festgelegt und für Außenstehende nicht immer leicht nachzuvollziehen. Um in der Gesellschaft nicht aufzufallen, zeigen viele Japaner in der Öffentlichkeit nicht ihr wahres Gesicht Ura, sondern ein idealisiertes, gesellschaftskonformes Omote. Damit in Verbindung steht die Schamkultur, die das Gegenteil zur westlichen Schuldkultur darstellt.
Omote - das, was von Außen sichtbar ist
Omote („Oberfläche, Außenseite“) bezeichnet in der japanischen Kultur die nach außen ersichtliche, offene und gesellschaftskonforme Seite, die oft idealisiert wird.
Die Polizei ist eine dieser gesellschaftskonformen, offenen Seiten, genauso wie die respektabel erscheinenden höflichen Umgangsformen innerhalb der japanischen Gesellschaft.
Die Gegenseite, die nach asiatischem Verständnis zum Erhalt des Gleichgewichts unbedingt notwendige, nicht nach außen ersichtliche verdeckte Seite heißt Ura („Rückseite, andere Seite“). Ein Beispiel dafür sind die Yakuza, die sich nach japanischem Verständnis um die „schmutzigen“, illegalen Seiten der Gesellschaft kümmern. Sie halten dabei ebenso eine geordnete Struktur ein wie die Polizei. Beide werden in der japanischen Gesellschaft gleichermaßen respektiert, jedoch nicht gleichermaßen gutgeheißen.
Tiefere Gefühle zeigt man in Japan nur selten. Vor allem „negative“ wie Zorn, Trauer und Enttäuschung offenbaren viele den Traditionen folgend, je nach Alter oft nur den Eltern, dem besten Freund/der besten Freundin oder dem Ehepartner.
Viele Europäer, die aufgeregt von widerfahrener Ungerechtigkeit erzählen, sind irritiert vom Lachen ihres Geschäftspartners. Dabei ist dieses Lachen jedoch kein Auslachen.
Ein Lächeln kaschiert in der japanischen Auffassung oft Schmerz und will dem Gegenüber Mitleid und eine gewisse Verpflichtung zur Hilfestellung ersparen.
Honne und Tatemae - Wahrheit und Maskerade
Der Begriff 'Honne' bezieht sich auf die wahren Gefühle und Wünsche einer Person. Diese können dem entgegengesetzt sein, was seitens der Gesellschaft erwartet wird, oder was entsprechend der Position einer Person und der Umstände traditionell für erforderlich gehalten wird. Diese Wünsche werden oft verborgen gehalten, außer gegenüber den engsten Freunden.
Tatemae bedeutet hingegen „Maskerade“und ist das Verhalten und die Äußerungen in der Öffentlichkeit. Sie entspricht den Erwartungen der Gesellschaft, der Position der Person und den Umständen. Die Tatemae entspricht daher der Honne meistens nicht. Dies wird oft durch Lächeln oder eine bewusst ausdruckslose Mimik maskiert.
Tatemae bezeichnet die öffentliche Haltung, die gezeigt wird, um die Harmonie zu wahren. Dies bedeutet oft einen Widerspruch zur Wahrheit oder den tatsächlichen Verhältnissen und eine Diskrepanz zwischen Denken und Sprechen. Honne ist das Gegenstück zu Tatemae und bezieht sich auf die wahre Absicht, die zugunsten der Harmonie verschwiegen wird.
Die Unterscheidung zwischen Honne und Tatemae ist ein universelles Phänomen in der menschlichen Gesellschaft. Für manche ist die Lösung der damit verbundenen Widersprüche Teil des Reifeprozesses beim Erwachsenwerden.
Hikikomori
Zeitgenössische Erscheinungen in Japan wie Hikikomori („sich einschließen; gesellschaftlicher Rückzug“) und parasitäre Singles sind Beispiele für die wachsenden Probleme der japanischen Kultur mit einer neuen Generation. Diese erscheint unfähig, sich mit der zunehmenden Komplexität von Honne und Tatemae in einer zunehmend kapitalistisch geprägten Gesellschaft auseinanderzusetzen.
Als Hikikomori werden in Japan Menschen bezeichnet, die sich in der Regel freiwillig in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer einschließen und den Kontakt zur Gesellschaft auf ein Minimum reduzieren.
Das japanische Gesundheitsministerium definiert als Hikikomori eine Person, die sich für mindestens sechs Monate aus der Familie und der Gesellschaft zurückzieht. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen Hikikomori für Jahre oder sogar Jahrzehnte in dieser selbst gewählten Isolation bleiben. Die meisten Hikikomori sind männlich.
Junge japanische Erwachsene fühlen sich von den hohen Erwartungen, die die Gesellschaft stellt, häufig überfordert. Versagensangst und das Fehlen eines ausgeprägten Honne und Tatemae drängen sie in die Isolation.
So entsteht ein Hikikomori
Die Entwicklung zum Hikikomori wird im Wesentlichen durch drei Faktoren beeinflusst:
Finanzielle Situation: Die wohlhabende Mittelschicht in Japan hat die finanziellen Möglichkeiten, auch ein erwachsenes Kind noch angemessen zu versorgen. Bei finanziell schlechter gestellten Familien treten die Kinder dagegen früher ins Arbeitsleben ein.
Familiäre Verhältnisse: Eltern erkennen oft die beginnende Isolation ihres Kindes nicht oder reagieren nicht angemessen darauf. Auch ein Verwöhnen des Kindes oder gar eine beiderseitige Abhängigkeit, wie sie vor allem in der Mutter-Sohn-Beziehung auftritt, beeinträchtigt die Selbstständigkeit der Jugendlichen. Diese Mutter-Sohn-Beziehung wird als Amae bezeichnet.
Situation auf dem Arbeitsmarkt: Der langfristige wirtschaftliche Stillstand hat den japanischen Arbeitsmarkt grundlegend verändert. Konnten sich frühere Generationen von Arbeitern und Angestellten noch auf eine lebenslange Anstellung in ihrer Firma verlassen, so sind heutige Berufseinsteiger bei ihrer Jobsuche oft erfolglos. Die Auflösung und Neuausrichtung des japanischen Arbeitsmarktes zwingt zu einer Umorientierung der traditionellen Lebensziele.
Einen Hikikomori in der Familie zu haben, ist in Japan mit einem starken Stigma behaftet, und die Angst vor einer öffentlichen Demütigung kann übersteigerte Ausmaße annehmen. Die meisten Eltern warten einfach ab, ob sich ihr Kind wieder von alleine der Gesellschaft annähert. Falls sie überhaupt aus eigenem Antrieb Schritte einleiten, können zuvor lange Zeitspannen vergehen. Auch die traditionell enge Mutter-Kind-Beziehung trägt zu einer Verschleppung der Behandlung bei.
Behandlung von Hikikomori
Es gibt unterschiedliche Ansichten zur Behandlung von Hikikomori: Japanisch orientierte Methoden setzen eher auf Warten, während westlich orientierte Methoden Hikikomori aktiv in die Gesellschaft zurückbringen wollen – teils mit ungewöhnlichen Verfahren, die eine mehrjährige Trennung von Kindern und Eltern bedeuten können. Immer mehr therapeutische Einrichtungen in Japan spezialisieren sich auf Hikikomori. Es gibt zwei Hauptrichtungen:
- Der psychiatrische Weg sieht meist einen längeren stationären Aufenthalt vor, um die Verhaltens- oder mentale Störung zu behandeln. Dabei werden auch Medikamente eingesetzt.
- Der sozialpädagogische Weg besteht aus einer Loslösung aus dem gewohnten Umfeld und der Integration in Wohngemeinschaften mit anderen Hikikomori. Sie sollen von der Anwesenheit der anderen Personen profitieren und lernen, sich wieder der Gesellschaft anzunähern sowie eigenständig zu leben.
Parasitärer Single - leben bei den Eltern
Parasitärer Single (parasaito shinguru) ist ein japanischer Ausdruck für Menschen, die bis in die späten 20er- und frühen 30er-Jahre ihres Lebens bei ihren Eltern wohnen, um ein sorgenfreies und damit komfortables Leben zu genießen.
Trotz der negativen Wertung des Ausdrucks haben viele junge Japaner aus finanziellen Gründen gar keine andere Wahl, als bis weit ins Erwachsenenalter bei ihren Eltern zu leben. Nicht alle sind in dieser Situation auch glücklich. Dennoch entspricht dies der traditionellen Lebensweise der japanischen Gesellschaft.
Viele Eltern möchten ihre Kinder schützen, ihnen den bestmöglichen Start im Leben ermöglichen und ihnen Gelegenheiten geben, die sie selbst nie hatten, z. B. für Reisen. Die Eltern genießen auch die Gesellschaft und soziale Interaktion und versuchen die Beziehung aufrechtzuerhalten.
Nesthocker aus finanziellen Gründen?
Der Hauptgrund für das Leben als parasitärer Single ist ein ökonomischer: Die Kosten für Wohnraum sind in Japan extrem hoch, besonders in großen Städten und deren Umfeld. Ein allein lebender Single zahlt etwa zwei Drittel des verfügbaren Einkommens für die Wohnungsmiete. Zudem müssten sie die Wohnung noch reinigen und selbst kochen. Außerdem bedeutet die Gründung eines Haushaltes zu Anfang hohe Ausgaben für Möbel, Waschmaschine, Kühlschrank und weitere Haushaltsgegenstände. Zudem müssen Mieter im Voraus dem Vermieter ein sogenanntes „Schlüsselgeld“ entrichten. Dabei handelt es sich um ein traditionelles Geldgeschenk für den Vermieter. Gemeinsam mit den Maklergebühren entstehen daraus Kosten, die oftmals die Mietkosten von sechs Monaten übersteigen.
Zusatzkosten für die Eltern?
Die zusätzlichen Ausgaben für die Eltern aufgrund der weiteren Haushaltsmitglieder sind im Allgemeinen gering, da Fixkosten wie Miete ohnehin anfallen und Zusatzkosten für Lebensmittel und andere Gegenstände des täglichen Bedarfs gewöhnlich vernachlässigbar sind. Viele Eltern sehen es auch als Investition in ihre eigene Zukunft, da ihre Kinder so umso mehr verpflichtet sind, sie im Alter zu unterstützen. Kinder sind in Japan traditionell verpflichtet, ihre alten oder kranken Eltern zu pflegen.
Selbstständig werden in Japan?
Der Schritt in die Selbstständigkeit erfordert also große Ausgaben und Arbeit und bedingt einen deutlichen Rückschritt im Lebensstandard. Große Teile der Bevölkerung leben in den Städten des Landes oder in der näheren Umgebung. Viele potenziell in Frage kommenden Arbeitsstellen und Unterhaltungsmöglichkeiten liegen in der Nähe der elterlichen Wohnung, sodass die jungen Menschen nicht in Betracht ziehen, eine eigene Wohnung zu nehmen.
Ökonomische Vorteile für parasitäre Singles
Die ökonomischen Vorteile kommen allen parasitären Singles zugute. Es gibt jedoch unterschiedliche Untergruppierungen:
- Karriere orientierte junge Angestellte könnten sich ein eigenständiges Leben leisten, bevorzugen jedoch die zusätzlichen finanziellen Vorteile sowie die Zeitersparnis. Unter Umständen spielen die Gesellschaft der Eltern und der damit verbundenen, vertrauten Sicherheit eine weitere Rolle.
- Andere erwachsene Kinder haben Schwierigkeiten, auf dem derzeitigen Arbeitsmarkt eine unbegrenzte Festanstellung zu finden. Viele verkaufen ihre Arbeitskraft unter ihrem Wert oder erhalten nur Teilzeitjobs. Sie werden so zu unterbeschäftigten sog. "Freetern", die sich ein eigenständiges Leben nicht dauerhaft leisten könnten, selbst wenn sie wollten.
- Einige wollen sich dem Konkurrenzdruck der Welt „draußen“ auch gar nicht aussetzen, suchen keine Arbeit oder nur solche mit relativ bequemen Randbedingungen. Das Einkommen ist dem entsprechend niedrigem. Einige von ihnen möchten das elterliche Haus beziehungsweise Zimmer nicht verlassen. Sie zählen zur Gruppe der vorhin erwähnten Hikikomori.
Anstieg des Heiratsalters in jüngeren Generationen
Eine mögliche Auswirkung ist der Anstieg des Heiratsalters. Insbesondere Frauen sind davon betroffen, die ein besseres Bildungsniveau erreichen und ihre Karriereaussichten wahrnehmen möchten.
Während Frauen 1970 im Mittel mit 24 Jahren und Männer mit 27 heirateten, stieg der Durchschnitt für 2002 auf 27,4 bzw. 29 Jahre. Daraus folgend gebären Frauen erst später Kinder. Zudem nimmt die Fruchtbarkeit der Frau ab dem 30. Lebensjahr ab, sodass die Geburtenrate von 1,8 im Jahr 1983 auf 1,32 im Jahr 2002 sank. Des Weiteren entscheiden sich viele Frauen gegen eine Heirat und stellen ihren beruflichen Erfolg in den Vordergrund. Das Gründen einer Familie verliert für diese Frauen an Bedeutung. Männer, die hingegen öfter heiraten wollen, finden daher schwerer eine Frau.
Parasitäre Singles werden für eine Vielzahl von Problemen in Japan verantwortlich gemacht. Dazu zählen:
- Rückgang der Geburtenrate
- wirtschaftliche Rezession
- steigende Kriminalität
Viele junge Japaner müssen sich demnach zahlreichen Herausforderungen stellen und zwischen Familie oder Karriere wählen. Vor dem Hintergrund der derzeit schwierigen wirtschaftlichen Situation wiegt die Verantwortung für eine Familie umso schwerer, sodass sie gezwungen sind, als parasitäre Singles zu leben.